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Martin Engler
Real Space – Vertikal vermessen
Katalog Mönchehausmuseum Goslar, 2006


Fast alle Bilder sind auf die eine oder andere Weise räumlich. Rothkos Raum ist flach (...) doch ist der Raum auf fast traditionelle Weise illusionistisch. In den Bildern Rheinhardts befindet sich – knapp hinter der Leinwandfläche – eine ebene Fläche, die wiederum unbestimmbar tief wirkt.

Donald Judd Specific Objects, 1964

Um was es geht, ist nach wie vor der Raum – als zentrale malerische Unwägbarkeit. Jener Moment, in dem die gemalte Fläche sich öffnet oder verschließt, in dem die Farbe durchlässig wird oder den Blick in der Fläche bindet. Immer wieder von neuem wird jener spezifische Ort der Malerei vermessen, der sich einer letztgültigen Beschreibung immer wieder von neuem entzieht. Die Bilder Degenhard Andrulats umspielen nicht erst in seiner jüngsten Produktion, aber in den letzten Jahren mit neuer Stringenz und Insistenz, eine der spannendsten und grundlegendsten Fragen der Malerei der Moderne überhaupt: Wie lässt sich der Raum der Malerei beschreiben und fassen, wenn die Bilder ihrer klassischen Räumlichkeit im Sinne eines Abbilds der Realität verlustig gingen? Für und mit Donald Judd waren die Dinge zumindest vorläufig klar entschieden. Nur wenig Malerei befand der Minimalist, als Erfinder der ’Spezifischen Objekte', die den Illusions-Raum konsequent hinter sich lassen wollten, überhaupt erwähnenswert. Der - gleichwohl in der modernistischen Maler-Wolle gewirkte - Bilder?stürmer wollte der Kunst den Raum konsequent austreiben, allerdings nur um im nächsten Schritt die zweidimensionale Flächigkeit endgültig zu verlassen. Er rief das Zeitalter des ’Real Space' und der ’Drei?dimensionalen Objekte' aus, die weder Fisch noch Fleisch sein wollen, weder Skulptur noch Malerei - und doch von beiden Gattungen das Beste in sich vereinen sollen. Dieser neue - echte, reale - Raum, den diese Objekte postulieren, entpuppt sich allerdings als nicht weniger illusionistisch und sinnlich, als höchst vielfältig zwischen Wahrnehmung und Realität oszillierend, denn der Raum der Malerei. Was aus diesen vielfältigen und weit reichenden Rochaden zwischen der Kunst und ihrem Raum resultiert, ist nicht zuletzt ein selbstbewusst auftretender Betrachter, der in ganz neuer Form zwischen dem Bild und seinen vielfältigen räumlichen Möglichkeiten vermittelt. Wenn wir also nach der spezifischen Räumlich?keit der Malerei Degenhard Andrulats fragen, kann dieser auf neue Weise mit den Bildern und ihrem Raum in Beziehung tretende Betrachter nicht außen vor bleiben. Im Gegenteil, der aktive suchende Blick des Betrachters wird zur zentralen Instanz, wenn wir uns auf die Spur dieses subtil sich verästelnden Binnenraums begeben, der aus den Leinwänden Andrulats bei aller Flächigkeit und Ungegenständlich?keit ungeheuer sinnliche und komplexe malerische Räume entstehen lässt. Farben sind bei Degenhard Andrulat immer reine, unvermischte Farbe. Im Moment des Farbauftrags, wenn der Pinsel die Leinwand berührt, der Malprozess in seine entscheidende Phase tritt, ist jede Geste, die das Bild in seiner vertikalen Ausdehnung vermisst, Karminrot oder Pariserblau, ist Ultramarin, Neapelgelb, Rubinrot oder schlicht Himmelblau. Die Bildtitel geben zuweilen Auskunft über die Genese der Bilder, indem einige der sich übereinander legenden Farbschichten benannt werden. Diese ’Lesehilfen'- und das machen Titelzeilen wie Permanent Saftgrün, gelbgezogen oder Gelb, linear verdeckt in ihrer poetischen Offenheit deutlich - wollen dabei nichts weniger als die Bilder in ihrer Wirkung und Wahrnehmung determinieren. Es ist aber gerade diese kreative Differenz zwischen Titel und Bild, mit der wir uns der Intelligenz und Faszination der Bilder Andrulats annähern. Denn im Verlauf des nur teilweise steuerbaren Malprozesses, in dem sich Mal?schicht über Malschicht legt, findet sich die einzelne Farbe ihrer eindeutigen Benennung mit einem erheblichen Mehrwert entzogen. Ein Entfremden und Vermalen des Bildes und seiner Farbigkeit, das bei jedem neuen in den noch feuchten Untergrund gesetzten Farbton weiter fortschreitet. Farbe wird übermalt, teilweise oder zur Gänze verdeckt, bleibt durchscheinend, vermischt sich, steht an den Rändern über, bildet Streifen, verdichtet sich und öffnet sich wieder. Ein faszinierender malerischer Prozess, in dessen Verlauf das Bild an Dichte und Potenz gewinnt. Insbesondere eine Gruppe dunkler, mächtiger Bilder führt diese für Andrulats Werk der letzten Jahre zentrale Bildgenese pointiert vor Augen. Seine Farbmalerei, die nie zur formalistischen Monochromie tendierte, wird hier gleichwohl in ihre koloristischen Randbezirke geführt. Diese Bilder brillieren mit dunkel-farbig glühenden Grau- und Schwarztönen, mit einer Palette, die gerade im Verschwinden, am Rande der Wahrnehmbarkeit und an den Grenzen der Bestimmbarkeit, machtvoll auftrumpft. In einem kalkulierten und zugleich an sich selbst sich berauschenden Prozess wird Strich um Strich geführt, wandelt sich die einförmige immer randparallel geführte Geste in ihrer vertikalen Reihung zur dynamischen Feier der Farbe und ihrer Verunreinigungen. Die Farbe gibt all ihre aufgesetzte Sinnlichkeit preis, dekliniert nicht kokett die Möglichkeiten ihrer Palette, sondern ist erdig, grob, brüsk und unverbindlich. Schmutziges, vielfältig schimmerndes Schwarz lässt das Rot der früheren Werkgruppen nur mehr als fernes Aufleuchten durchscheinen. Erdig-purpurnes Grau wird höchst augenfällig zur Fülle und Summe aller Farben. Und zugleich kippt die Farbigkeit an der Grenze zur Unfarbe in parallel entstehenden Werkgruppen in wunderbar schmerzhafte Fehlfarbigkeit. Geste um Geste reiht hier eine Fülle an Farben, die nun wirklich das Spektrum des Sichtbaren in seiner Breite zitiert, allerdings ohne moderierend auszugleichen oder subtil zu vermitteln. Satte selbstbewusste Farbstreifen prallen ungebremst aufeinander und entfalten eine malerische Wucht, die den schwarzen Farbfallen um nichts nachsteht. Im dichten Sich-Überlagern der Farbschichten und der kraftvoll geführten Pinselgesten wird die Farbe zur sich entziehenden Conditio sine qua non einer Malerei, die sich gerade in dieser Kippfigur aus Rückzug und Fülle ihrer selbst und unserer Wahrnehmung versichert. Diese sich verdichtenden und Farbe nur mehr rand?ständig definierenden schwarzen Bilder führen uns gerade in ihrer Bezüglichkeit zu ihren starkfarbigen Gegenbildern zurück, zum sich öffnenden und verschließenden Bildraum der Moderne und seiner spezifischen Formulierung in den Bildern Andrulats. Der gestrenge Formalismus aus reiner Farbe und massiver Vertikalität, aus dem diese Bilder ihr konzeptuelles wie malerisches Gerüst konstruieren, ist an ihrer finalen Oberfläche nur mehr als ferner Nachhall abzulesen. Die Stringenz aus Pinselstrich und Farbigkeit, aus Format und Geste löst sich auf in eine vielfach gebrochene und immer wieder neu bestätigte Binnenräumlichkeit des Bildes. Andrulats Umgang mit diesem Innenraum des Bildes, der sich gleichwohl dem realen Raum des Betrachters anverwandelt, ist geprägt durch eine ebenso grund?legende wie konstitutive Ambivalenz. Seine Malerei ist lesbar als komplexer Dialog, als eine atmende, sich öffnende und wieder sich verschließende Bewegung, deren gegensätzliche Pole komplementär aufeinander bezogen sind. Das Schicht um Schicht sich aufbauende Bild findet seinen Gegenpol in der seriellen Dynamik seiner Oberfläche. In dem Maße wie sich die vertikale Struktur der Pinselgesten zwischen die Ränder der Leinwand spannt, verdichtet sich jener seltsam schwer zu fassende Bildraum in der Tiefe der Malerei. Farbmächtige Flächen werden durch irritierende Farbspalten aufgebrochen und verwirren nachdrücklich die scheinbar fest gefügte Bildtstruktur. Die sich wiederholende Spur der Farbbahnen fügt sich zur seriellen Struktur, die wie ein manchmal transparenter, manchmal opaker Vorhang einen ebenso tiefen wie unfassbaren Raum zu generieren scheint. Insbesondere die zum Verständnis der Arbeiten Andrulats zentralen Querformate zelebrieren diese spezifische räumliche Ambivalenz. Der Antagonismus Rand versus Mitte, Grund versus Figur wird aufgelöst zu Gunsten einer atmenden, undefinierbar tiefen Bildfläche. Sich verschließende, den Vordergrund verdichtende Farbschilde stehen dann dynamisch sich staffelnden Bildebenen gegenüber, denen gleichermaßen eine ungerichtete Offenheit zueigen ist. Eine malerische Offenheit, die mit jedem Bild und jedem Strich von neuem der Frage nachgeht, wie dieser immer wieder sich einstellende, nie wirklich überwundene Raum der Malerei beschaffen ist. Ein Raum der sich wesentlich dem forschenden Augenmerk des Betrachters verdankt und mit jedem Pinselstrich den Blick wieder freigibt auf Ad Rheinhardts unendlich tiefen Raum knapp hinter der Leinwandfläche.


 
Real Space – Measured Out Vertically

Almost all images are spatial in one way or another. Rothko’s space is flat (…) but the space is illusionistic in an almost traditional manner. In Rheinhardt’s pictures there exists – right behind the surface of the canvas – a flat surface which seems to have an indefinable depth. 1

Donald Judd: Specific Objects, 1964

That which is of central concern is, as always, space – namely as a fundamental painterly imponderability, as the moment when the painted surface opens or closes, when the paint itself becomes permeable or affixes the gaze onto the surface. Again and again, a measurement is taken of that specific site of painting which retreats repeatedly in denial of an ultimately valid description. The pictures of Degenhard Andrulat – not for the first time in his most current productions, but in recent years with a new and compelling insistency – revolve around one of the most fundamental and fascinating questions in Modernist painting: how can the painted space be described and comprehended when pictures have lost their classic spatiality in the sense of being a depiction of reality?
For and in the case of Donald Judd, the issue had been clearly resolved, at least provisionally. This Minimalist, as the discoverer of “specific objects” which were intended to abandon fully the space of illusion, considered only a few instances of painting to be worthy of mention. Although the texture of his iconoclasm was knit with the wool of Modernist painting, Judd desired to drive space out of art, only in the next step, however, to abandon definitively the two-dimensional surface. He proclaimed the age of “real space” and “three-dimensional objects,” which are neither fish nor fowl, neither sculpture nor painting, and yet are deemed to combine within themselves the best from both genres. The new – genuine and intrinsic – space postulated by these objects, however, proves to be no less illusionistic and sensuous than the space of painting, to oscillate with great diversity between perception and reality.
That which results from these multiple and extensive castling-maneuvers effected between art and its space is, not least of all, the emergence of a self-aware viewer who mediates in an entirely new manner between the image and its various spatial possibilities. Hence when we inquire into the specific spatiality evinced by the painting of Degenhard Andrulat, it is not possible to exclude this viewer who enters into a new type of relationship to the pictures and their space. On the contrary, the actively seeking gaze of the viewer becomes the central authority when we embark upon the investigation of this subtly articulated interior space which, in spite of its two-dimensional and non-objective nature, draws forth from Andrulat’s canvasses enormously sensual and complex painterly spaces.

With Degenhard Andrulat, colors are always pure and unmixed. At the moment of applying paint, when the brush touches the canvas and the process of painting enters its decisive phase, each gesture which measures out the picture in its vertical extension is vivid carmine or Parisian blue, is ultramarine, Neapolitan yellow, ruby-red or simply sky-blue. From time to time, the titles of the pictures provide information about their genesis, inasmuch as some of the successively applied layers of color are named. These “reading aids” – and this is made clear by titles such as “Permanent juice-green, drawn yellow” or “Yellow, covered linearly” in all their poetical frankness – are supposed to accomplish nothing less than the definition of the pictures in terms of their impact and perception. But it is precisely this creative difference between title and picture by means of which we approach the intelligence and fascination of Andrulat’s pictures. For during the only partially controllable process in which paint is laid down layer after layer, the individual color comes to lose its unambiguous designation with a significant added value. This is an estrangement and progressive cluttering of the picture and its coloration, one which continues with each new application of paint to the still moist background. Pigment is painted over, is partially or completely covered, remains transparent, becomes mixed, protrudes beyond the edges, forms streaks, becomes denser and opens up again.

This is a fascinating painterly process, during which the work grows in density and potency. It is especially a group of dark, powerful pictures that give pointed expression to this pictorial genesis, which is central to Andrulat’s work in recent years. His handling of color, which has never tended towards formalistic monochromaticism, is here nevertheless conducted into its outlying coloristic districts. These pictures are brilliant with dark-colored, glowing tones of gray and black, with a palette which vigorously asserts itself precisely in the act of disappearing, on the fringes of perceptibility and along the borders of ascertainability. In a process both guided by calculation and given over to self-intoxication, stroke after stroke is accomplished; the monotonous gesture, always executed parallel to the edges, is transformed in its vertical, incremental repetition into a dynamic celebration of color and its contamination. The paint yields all its assumed sensuality; it does not flirtatiously flaunt the possibilities of its palette, but instead remains earthy, coarse, brusque and non-committal. Dirty and diversely shimmering black allows the red hue of earlier groups of works to shine through only as a distant illumination. An earthy-purple gray becomes quite striking as the abundant summation of all colors. And in groups of works created at the same time, colorfulness tilts towards non-coloredness in an exquisitely excruciating clash of color. In gesture after gesture, there is amassed a plethora of colors which now in fact convey the full spectrum of the visible without, however, striving after a moderating equilibrium or an expressive subtlety. Sumptuous and self-assertive streaks of paint collide in brash vigor and release a painterly massivity which is in no way inferior to the black-hued cascades. In the dense superimposition of layers of paint and in the energetic brushstrokes, color becomes the withdrawing conditio sine qua non of a manner of painting which, precisely in this oscillation between retreat and replenishment, assures both its own identity and our perceptual response.

These increasingly dense black pictures, with their only marginal formulation of color, usher us in their relatedness to their more starkly colored counterparts back to the opening and closing pictorial space of Modernism and to its specific concretization in the pictures of Andrulat. The strict formalism of the pure colors and massive verticality with which these pictures establish their conceptual and painterly framework may be read upon their finally achieved surface as only a distant echo. The insistency emanating from brushstroke and coloration, from format and gesture, is dissipated into the frequently broken and repeatedly confirmed interior spatiality of the picture. Andrulat’s treatment of this inner pictorial space, which nonetheless appropriates the real space of the viewer, is characterized by a fundamental and constitutive ambivalence. His painting style may be read as a complex dialogue, as a breathing dynamism which opens and closes so as to establish a complementary relationship between two opposing poles. The picture, which is constructed layer after layer, possesses an contrasting pole in the serial, energetic surge of its surface. To the extent to which the vertical structure of the brushstrokes stretches out between the edges of the canvas, that pictorial space which is so strangely difficult to ascertain increases in density within the depths of the painting. Massively colored pictorial surfaces are disrupted by irritating streaks of paint, and they emphatically inject chaos into the seemingly stable arrangement of the visual structure. The reiterated courses of color combine into a serial structure which, like a sometimes transparent, sometimes opaque curtain, seems to generate a space possessing depth but remaining incomprehensible.


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1 (Rendition into English of the German translation)